Die Kunst, auszuhalten
Pflegefachkraft auf der Palliativstation: Anna Orthuber hört zu, schenkt Zeit und würdigt die Menschen und ihre Geschichten
Hinter jedem Mensch steckt eine Geschichte und hinter jeder Geschichte oft ein letzter Wunsch. Das Loslassen vom irdischen Dasein ist ein Prozess, den selbst kleinste Erfüllungen wie die letzte Begegnung mit einem geliebten Vierbeiner erträglicher gestalten. Bedürfnisse, Ängste, aber auch der Stolz auf das Erreichte sind nur ein Blitzlicht des Kaleidoskops an Gefühlen, die den Pflegefachkräften auf der Palliativstation des Krankenhauses Landshut-Achdorf begegnen. Während sich viele Patienten der Schwere ihrer Erkrankung und des Ausgangs bewusst sind und ruhig ihre letzte Phase beschreiten, hadern andere mit ihrem Schicksal und schwanken so zwischen Inakzeptanz, Wut und tiefgreifender Verzweiflung. Für viele ist die Station 5C des Krankenhauses Landshut-Achdorf aber keineswegs der Endhalt ihres Lebens, sondern ein Zwischenschritt, um für alles Kommende gut gerüstet zu sein.
Anna Orthuber ist da, um mit auszuhalten. Sie hört zu, begleitet durch Weinkrämpfe und blickt der Unfairness des Lebens zusammen mit den Patienten ins Auge. Sie schenkt Zeit, lässt ihr Gegenüber die Geschichten erzählen, die jene geprägt haben und nimmt so mit großer Umsicht und Demut Wünsche und Bedürfnisse der Patienten entgegen. Das persönliche Verhältnis zu den Patienten und die Möglichkeit, diese ein Stück ihres Weges zu begleiten, beeindruckten die 24-jährige Pflegefachkraft bereits während ihrer Ausbildung, in deren Anschluss sie zum Unverständnis ihres Umfelds auf die Palliativstation des Krankenhauses Landshut-Achdorf wechselte.
„Zwar haben die klassischen Kommentare schon angefangen, als ich mit der Ausbildung begonnen hatte, jedoch waren nach meinem Wechsel auf die Palliativstation alle fast ein bisschen erschrocken und fragten sich, wie ich damit umgehen wollte“, erzählt die junge Fachkraft, die zuvor bereits ein Studium der Gesundheitswissenschaft absolvierte. Diese Reaktionen zahlen dabei auf ein gesellschaftliches Bild der Palliativmedizin ein, das allerdings besser im Bereich der Märchen ihren Platz finden würde. Schließlich steht auf der Palliativstation im Vordergrund, Zeit zu schenken, die Patienten als Individuen mit ihrem sozialen Leben zu betrachten und ihre bestmögliche Versorgung sicherzustellen. Die Station, welche im Krankenhaus Landshut-Achdorf ihr liebevoll gestaltetes Zuhause im fünften Stock gefunden hat, ist jedoch mitnichten der zwangsläufige Endhalt einer langen Reise. Vielmehr werden Patienten auch wieder nach Hause verlegt oder ziehen in ein Hospiz, um dort ihre verbleibenden Tage mit möglichst dem maximalen Leben zu füllen.
Sämtliche Maßnahmen werden stets in Einklang mit den Wünschen der Patienten und deren Angehörigen, die die Betroffenen oft Tag und Nacht begleiten und betreuen, getroffen. „Wir müssen den Angehörigen dabei leider auch schwere Nachrichten überbringen und deren Emotionen in der Folge auffangen“, erörtert Anna Orthuber die Belastungssituationen, die ihre Arbeit als Pflegefachkraft auf der Palliativstation regelmäßig offenbart, ergänzt aber im gleichen Atemzug: „Im Umkehrschluss bekommen wir aber so viel Dank zurück. Das gibt uns dann auch die Kraft für die nächsten Aufgaben.“
Kraft ist dabei eine zentrale Begrifflichkeit des palliativen Ansatzes, zu der Anna Orthuber sofort eine besondere Geschichte aus ihrer mittlerweile rund halbjährigen Tätigkeit auf der Palliativstation in den Sinn kommt: „Es handelt sich um die Geschichte einer jungen Frau, die mit einer sehr schnell fortschreitender Erkrankung und eingeschränkter Kontaktfähigkeit zu uns verlegt wurde. Sie war Mutter einer minderjährigen Tochter, die sich bewusst dafür entschied, ihre Mutter nochmal sehen zu wollen. Stundenlang lagen sie zusammen im Pflegebett und die Tochter erzählte Geschichten. Als es Zeit war sich zu verabschieden, brachte das Mädchen eine beeindruckende Kraft auf und ebnete ihrer Mutter mit folgenden Worten den Weg. ‚Wir werden immer füreinander da sein und ich habe dich lieb, aber ich verstehe, dass du jetzt gehen musst.‘ So etwas bleibt in Erinnerung.“
Von diesen Fällen könne man sich emotional auch nie hundertprozentig distanzieren, gibt die sehr reflektierte junge Fachkraft in der Folge zu. „Man nimmt etwas mit nach Hause und das halte ich auch für ganz normal.“ Die Dankbarkeit der Angehörigen schenkt den Mitarbeitenden der Palliativstation die entscheidende Kraft, selbst mit den Erlebnissen abzuschließen und betonen darüber hinaus die Tiefe der Begleitung, die aufgrund des deutlich höheren Pflegeschlüssels möglich wird. Phrasen wie „Ich könnte das nicht“ oder „Wie hältst du das aus?“ prallen an Anna Orthuber dagegen mittlerweile ab, denn ihr Wissen um den Einfluss ihrer Arbeit auf die letzte Lebensphase der Patienten wiegt alle Herausforderungen auf. „Versterben wird sowieso jeder einmal, auf der Palliativstation können wir jedoch einen würdevollen Abschied ermöglichen.“
Entsprechend stark und eingeschworen präsentiert sich auch das Team der Palliativstation, das trotz unterschiedlichster Charaktere entscheidende Gemeinsamkeiten vereint, wie Anna Orthuber skizziert. „Uns alle verbindet die Liebe zur Pflege und das Interesse am Menschen.“ Tugenden, denen aufgrund der Verweildauer der Patienten aber auch des strukturellen Konzeptes des Palliativgedankens, tagtäglich nachgegangen werden kann. „Palliativ bedeutet für mich nämlich, jeden Menschen als Individuum, abgesehen von seiner Krankheit und seinem physischem Zustand, zu betrachten; als Person mit Wünschen, Bedürfnissen, einem Sozialleben und einer eigenen Geschichte.“