
Zwänge - Ursachen, Diagnose und Therapieansätze
„Ich schaue noch einmal schnell, ob der Herd aus ist!“ - „Habe ich alle Kerzen gelöscht, bevor ich aus dem Haus gegangen bin?“ - „Ich wasche mir lieber zwei Mal meine Hände.“
All dies sind Beispiele von harmlosen Alltagszwängen. Wir hinterfragen unsere Handlungen und begegnen damit einer Unsicherheit, die so beseitigt werden kann. Freunde oder Bekannte beschreiben Sie als „sehr genau“, „perfektionistisch“, „pingelig“ oder gar „zwanghaft“. Dies muss jedoch nicht der Fall sein. Manche denken eben mehr nach als Andere, manche sorgen sich mehr als ihnen bekannte Personen. Das kann völlig in Ordnung sein, so lange es den Alltag nicht bestimmt, Beziehungen beeinträchtigt und zu einem Leidensdruck führt. Nicht so verhält es sich bei Zwangserkrankten. Die Betroffenen machen 3% der Menschen in Deutschland aus. Die Zahl scheint zunächst gering - bei ca. 82 Millionen Einwohnern handelt es sich jedoch um ca. zwei Millionen Menschen.
Zwangsstörungen, sie werden eingeteilt in Zwangsgedanken, Zwangsimpulse und Zwangshandlungen, sind eine extreme Steigerung zunächst harmloser Gedanken und Handlungen - mit entsprechenden Folgen:
Sie schaffen zunehmenden Leidensdruck, sind zeitraubend, beschämend, zermürbend, seelisch beeinträchtigend und schließlich sogar körperlich stark belastend. Nicht nur die Erkrankten selbst, auch das gesamte Umfeld - beruflich, freundschaftlich und vor allem partnerschaftlich - ist stark betroffen und involviert.
In der Praxis zeigt sich, dass Zwangserkrankungen als ich-dyston empfunden werden. Dies bedeutet, sie werden nicht zum Ich-gehörig und als störend empfunden. So kommt es nicht selten vor, dass diese Erkrankungen aus Scham, Hoffnungslosigkeit oder Hilflosigkeit bis zu Jahren (Studien belegen ca. 7-10 Jahre nach Ausbruch der Krankheit) unerkannt und untherapiert bleiben. Zwangsstörungen entwickeln sich in der Regel schleichend, manchmal aufgrund eines bestimmten Auslösers oder auch akut. Sie drängen sich auf beim Denken, Sprechen, Zählen oder in unserer Vorstellung. Eine Kombination aus Zwangsgedanken mit Zwangshandlungen ist nicht selten.
Das Krankhafte an einem Zwang ist die hartnäckige Aufdringlichkeit und die Unfähigkeit, die Gedanken und Handlungen zu steuern oder zu unterdrücken. Zwänge können das Leben des Betroffenen stark beeinträchtigen. Auch körperliche Symptome wie Herzrasen, Zittern, Schweißausbrüche und Aggressionen führen zu einer Beeinträchtigung im sozialen Kontakt, es scheint keinen Ausweg zu geben.
Meist drehen sich Zwangsgedanken und Zwangsvorstellungen um Ideen aggressiver Natur: Unfälle, Erkrankungen, Katastrophen oder Gewalttaten. Hauptsächlich bedrohen diese nahestehende Personen, wobei diese zwanghaften Befürchtungen bildhaft-realistisch durchlebt werden. Jedoch kommt es so gut wie nie zur Ausführung dieser Zwangsideen. In den meisten Fällen bleiben „zwangskranke Täter ohne Tat“. Nicht nur die Gedanken werden als quälend erlebt. Die Personen leiden unter Selbstzweifeln und Selbstanklagen, Scham, Schuldgefühlen, Angst und Niedergeschlagenheit. Weitere Zwangsgedanken beziehen sich auf Verschmutzung, Religion und Moral, Sexualität, Symmetrie und Genauigkeit, körperliche Symptome oder die Furcht, bestimmte Dinge zu sagen, zu verlieren, zu tun oder zu unterlassen.
Zwangshandlungen hingegen sollen die Zwangsvorstellungen/-gedanken „neutralisieren“. Weil diese Abläufe meist schon sehr routiniert sind, fallen sie oft nicht auf. Erst wenn das sehr häufige Waschen, Wiederholen und Kontrollieren von Dingen unangemessen und für einen Angehörigen „übertrieben“ erscheint, blitzt die Zwangserkrankung durch. Weitere Zwangshandlungen beziehen sich auf nicht nur technische Kontrollzwänge wie Schlösser, Herd, Kerzen, Türen, Fenster usw., sondern auch psychosoziale Kontrollzwänge (keinen Fehler machen, Strecken mehrmals befahren aus Angst, jemanden verletzt zu haben, Vorsichtsmaßnahmen etc.), Ordnungszwänge, Zählzwänge, Sammelzwänge, Berührungszwänge, das exzessive Erstellen von Listen oder z.B. den unbeeinflussbaren Drang zu Reden.
Ist die Zwangserkrankung in der Persönlichkeitsstruktur tief verwurzelt und führt zu starken gesellschaftlichen sowie innerlich psychischen Phänomenen, spricht man von einer zwanghaften (anankastischen) Persönlichkeitsstörung.
Symptome hierfür können sein: Unentschlossenheit, Zweifel, übermäßige Vorsicht als Ausdruck einer tiefen persönlichen Unsicherheit, extremer Perfektionismus, das Bedürfnis nach ständiger Kontrolle und peinlich genauer Sorgfalt. Dies kann zu einer Skrupellosigkeit, der Unfähigkeit warmherzige Gefühle zu zeigen, Starrheit und Eigensinn führen.
Verstehen Sie mich nicht falsch - eine disziplinierte Leistung, vor allem im Berufsleben, ist nicht grundsätzlich falsch. In einigen Berufszweigen ist sie Voraussetzung und entscheidet über Erfolg oder Misserfolg, im Einzelfall sogar über ein starkes Sicherheitsgefühl. Diese übersteigerten Verhaltensweisen können auch positive Elemente enthalten, zumindest offensichtlich und im zeitlich direkten Zusammenhang.
Starke Kontrolle kann zum Beispiel das Gefühl geben, eigene Ängste zu mildern. Wenn die ganze Kraft und Aufmerksamkeit auf das „korrekte Abwickeln“ der Zwänge gerichtet ist, können diverse Problembereiche besser auf Distanz gehalten oder sogar vollständig ausgeblendet werden. Auch die Gefühle von Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit werden zeitweilig verringert, da der Betroffene so beschäftigt und abgelenkt damit, ist die Zwänge durchzuführen. Sie geben vermeintlich Sicherheit und Schutz. Einen Handlungsrahmen. Die Betroffenen fühlen sich nicht mehr vollständig hilflos, einsam und unsicher, versagend und der Umwelt willkürlich ausgesetzt. - Sie sind es jedoch trotzdem. Nur zeitlich verzögert und gedanklich und körperlich ausgelaugter. In manchen Situationen dienen Zwänge auch als Protestreaktion gegen autoritär wahrgenommene Personen. Die eigenen Zwänge werden zu „Gegen-Zwängen“ und dienen damit indirekt dem Ausdruck von Ärger, Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit.
Vermeintlich kleine und nicht bewusst wahrgenommene, aber tief verwurzelte traumatische Erlebnisse können Auslöser hierfür sein. Aber auch offensichtlich schädigende Ereignisse wie Verlust, Tod oder Beenden einer Lebenskonstante, sei es in Partnerschaft, Freundschaft, Beruf oder Wohnort etc.. Die Psychoanalyse erklärt Zwänge vor allem als Abwehrmaßnahmen gegen „verbotene Impulse aus dem Unbewussten“. Biologisch erklärbar sind Zwänge u.a. durch die nicht funktionale Übertragung verschiedener Botenstoffe im Gehirn, was letztendlich durch die Wirksamkeit diverser Medikamente bestätigt werden konnte.
Zwangsstörungen können auch als Begleiterkrankung zu Angststörungen, Depressionen oder bei schizophrenen und anderen Psychosen sowie bei bestimmten hirnorganischen Leiden, wie einer Gehirnentzündung oder -Schwund, auftreten.
Grundsätzlich gilt: Mit genügend Zeit und Geduld kann eine Zwangserkrankung gut therapiert werden, zum Beispiel in einem verhaltenstherpeutischen oder tiefenpsychologischen Setting. Die besten Erfolge, so die aktuelle Forschungslage, zeigt ein Gesamt-Behandlungsplan. Dies ist eine Kombination aus Psychotherapie, Pharmakotherapie, Familienberatung und der Anleitung zur Selbsthilfe.
Nach der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen gilt:
Appelle an den „gesunden Menschenverstand“ oder die Willenskraft bringen selbst bei einer erst beginnenden Zwangsstörung nichts. Im Gegenteil: Sie belasten nur durch Schuldgefühle. Als Angehöriger sollten Sie die betreffende Person bei den Zwängen nicht unterstützen. Dies stabilisiert die Zwänge nur. Unbedingt auch unterlassen, wenn der Betroffene wütend, aggressiv, oder schlicht verzweifelt die Unterstützung und Hilfe einfordert. Lassen Sie auch Ihren eigenen Alltag nicht von den Zwängen bestimmen. Sie sollten verständnisvoll und nicht wütend Grenzen aufzeigen.
Wichtig ist stets: Kommunizieren Sie. Signalisieren Sie Anerkennung und Zuwendung, wenn Fortschritte gemacht werden. Bei Rückfällen nicht tadeln, denn Schwankungen im Zwangsverhalten sind üblich.